“Kunst schaffen heißt,
die Welt zu begreifen”, lautet ein Spruch, den
ich mir einmal notierte. Und genau das tue ich auch.
Mit meiner künstlerischen
Umsetzung des Themas versuche ich, die Welt der
sogenannten “Co-Abhängigkeit” zu
BE-greifen, für die ich den Begriff
“Mit-Sucht” wähle, weil er mir
für mich semantisch stimmiger erscheint. Ich habe
die Alkoholsucht meines Mannes MIT-getragen, bis ich es
nicht mehr ertrug.
Meine Medien des BegreifbarMachens
sind zum einen das “Malen mit Licht” =
Fotografie bzw. Fotokarikatur, und zum anderen das
Installieren von Objekten, die auf der haptischen Ebene
fassbar sind. Sie sind in dieser virtuellen Ausstellung
abfotografiert.
Die Originalfotos, mit denen ich
gemalt habe, sind - bis auf die beiden
“gestellten” MedikamentenAufnahmen - alles
Originaldokumente meines Alltags mit der
Alkoholabhängigkeit eines anderen, mir sehr nahe
stehenden Menschen. Sie sind Momentaufnahmen aus
teilweise ungewöhnlicher Perspektive und NICHT
eigens gestellt. Weil es sich um Originaldokumente
handelt, sind dargestellte Flaschen in den
Begleittexten auch nicht einfach als “leer”
bezeichnet, sondern WAHR-haftig als
“ausgetrunken”. Das ist ein feiner, aber
wichtiger Unterschied.
Ich verfremde diese Originalfotos
ästhetisch und verarbeite hierdurch das Gesehene
und
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Gefühlte in mir. “Kunst
kommt von innen”, lautet ein anderer Spruch.
Auch in der Installation von
Objekten d.h. im eigentlichen handwerklichen Tun
verarbeite ich das Erfahrene. Auch hier geht es darum:
Was sehe ich, was fühle ich, was denke ich? Was
will ich sehen, was will ich fühlen, was will ich
denken? Ich will nicht verdrängen, sonderns
konstruktiv und kreativ etwas Neues erschaffen, dem
Bekannten einen neuen Sinn geben und die Dynamik, die
diesem Prozess unterliegt, sichtbar machen.
Ich will verfärben, ich will
verdrehen, ich will die Flaschen quälen, ich will
die ursprüngliche Bildaussage in ihre ureigenen
Elemente zerlegen - ihre Tonwerte, ihre Lichtanteile,
ihre elektromagnetischen Frequenzen -, ich will aus dem
Schlimmen etwas Ästhetisches machen. Die Dynamik
kanalisiert meine Empfindungen, und es entsteht eine
neue Sichtweise auf die Existenz aller Dinge.
Die entstehende Ästhetik der
Fotos ist wertfrei. So schön und farblich
ansprechend sie zuweilen sein mögen, sind sie
gerade nicht dazu da, das Trinken von Alkohol zu
beschönigen oder dazu anzuregen. Ihre
“Schönheit” ist dem Prozess des VER-
und BE-arbeitens geschuldet. Etwas Schlimmes wird
ver-arbeitet, es wird künstlerisch be-arbeitet,
und heraus kommt etwas “Schönes” (wenn
auch freilich nicht immer...!), das symbolisch für
den
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Verarbeitungsprozess steht. Denn die
Verarbeitung von schlimmen Erfahrungen ist immer etwas
Gutes. Dieses abstrakt Gute kann sich über das
Sinnesorgan Auge nun eben in “schönen
Farben” manifestieren.
Dennoch möchte ich in diesem
Zusammenhang auf eine potenzielle Gefahr für
Betrachter hinweisen, die selbst Alkoholiker sind:
Unter Umständen können die Werke sogenannte
“Trigger-Reize” enthalten, also Reize, die
einen Rückfall auslösen könnten, wie ein
leitender Arzt der Psychiatrie Langenhagen meinte.
Die fotografischen Werke sind mit
kurzen Begleittexten versehen, die verstehen helfen
wollen. Die Texte sind an ein DU gerichtet, das in der
autobiografischen Betrachtung natürlich ein
personales Du ist. In der künstlerischen Reflexion
jedoch wird es zu einem imaginären Du, einem
allgemeinverbindlichen und unpersönlichen Du, das
sich von einem konkret addressierten Du
vollständig löst. Obwohl Text und Bild eine
Symbiose eingehen, ist es natürlich dem Betrachter
überlassen, das jeweilige Bild vom Text getrennt
ganz neu zu interpretieren.
Die Bilder, Texte und
Installatio-nen sind im Zeitraum von Februar bis Juli
2012 entstanden. Ein Bild - ebenfalls in dieser Zeit
fotografiert - wurde im August 2014 in die Werkserie
mit aufgenommen. Eine Installation der Werkserie ist
weggefallen.
Die Arbeit an der Werkserie hatte
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einen konkreten emotionalen Anlass: Im
Februar/März 2012 hat sich mein Mann in Etappen vor
seiner großen Werkausstellung zu seinem 60.
Geburtstag - er war Bildender Künstler - immer wieder
“weggesoffen”, was gewissermaßen einen
“Höhepunkt” in unserem gemeinsamen
“Handling” seiner Sucht darstellte, und einen
Mount Everest an verschiedensten Emotionen bei mir
auslöste, der verarbeitet und kanalisiert werden
wollte.
Mein Mann wusste um die Existenz
dieser sehr speziellen Werkreihe. Ansehen mochte er
sich die Fotokarikaturen nicht; nur die Arbeit an den
Installationen hat er mitverfolgt oder vielmehr:
mitverfolgen müssen, denn wir haben oft - jeder
hierbei für sich an seinem Werk - gemeinsam in
seinem oder meinem Atelier gearbeitet. Während er
es dabei gut vermeiden konnte, auf den Bildschirm des
Laptop zu blicken, so ließ es sich hingegen nicht
vermeiden, mir beim Basteln der Moleküle
zuzuschauen ... vor allem dann nicht, wenn die
Wasserstoffatome sich alle selbstständig machten
und unter seine Staffelei rollten, an der er am
aktuellen Bild malte.
Seinem Wunsch, diese Ausstellung
zu seinen Lebzeiten nicht öffentlich zu zeigen,
bin ich nachgekommen.
Im April 2014 ist mein Mann an
seiner Alkoholsucht gestorben.
TAMI, August 2014
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